(Interview geführt am 8. April 2020)
REWI: Was bedeuten die Maßnahmen der Regierung „Lockdown der Wirtschaft“ und Ausgangssperren für die Wirtschaft?
Tina Ehrke-Rabel: Mit dem COVID-19-Maßnahmengesetz wurde der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ermächtigt, durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zwecke des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen zu untersagen. Dasselbe Recht wurde demselben Bundesminister, dem Landeshauptmann für „sein“ Landesgebiet und der Bezirksverwaltungsbehörde für „ihren“ politischen Bezirk oder Teile desselben eingeräumt. Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser Maßnahmen ist ihre Erforderlichkeit zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19. Auf Basis dieser Ermächtigung wurden diverse Verordnungen erlassen. Eine der wichtigsten Verordnungen in diesem Bereich ist jene, die zur Schließung von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen sowie zur Schließung von Sport- und Freizeiteinrichtungen geführt hat. Dass jene Branchen, die der Grundversorgung der Bevölkerung dienen, nicht geschlossen wurden, sei hier nur angemerkt. Im Ergebnis hat bereits das erste COVID-19-Maßnahmengesetz zu einem „Lockdown“, einer Schließung, breiter Teile der Wirtschaft geführt.
Eine solche Maßnahme greift in die grundrechtlich gesicherte Freiheit der Erwerbsausübung ein. Sie ist, wie jeder Eingriff in ein Freiheitsrecht, zulässig, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage erfolgt, verhältnismäßig und zur Zielerreichung geeignet ist. Die Statistiken über die Entwicklung der Verbreitung des Virus scheinen zu bestätigen, dass die Maßnahmen wirksam waren und noch sind.
REWI: Inwieweit ist dadurch das Finanzrecht berührt?
Tina Ehrke-Rabel: Finanzrecht ist nicht nur Steuerrecht, sondern unter anderem auch Haushaltsrecht. Es befasst sich also nicht nur mit der Seite der Staatseinnahmen (Steuern im weitesten Sinn), sondern eben auch mit der Ausgabenseite. Betrachtet man den Lockdown in Kombination mit den der Bevölkerung auferlegten Ausgangssperren und berücksichtigt man, dass der Lockdown jedenfalls vier Wochen gedauert haben und auch in den Folgemonaten nicht vollständig aufgehoben wird, so ist zu bedenken, dass Menschen so die Existenzgrundlage entzogen werden kann. Selbst wenn das österreichische Wohlfahrtssystem auch für solche Fälle außerhalb der Krise eine soziale Absicherung in Form der Notstandshilfe und anderer Transferzahlungen schafft, stellt ein durch den Staat (abrupt) herbeigeführter Wegfall der Existenzgrundlage für viele Wirtschaftstreibende einen massiven Eingriff in die individuelle Freiheit dar, auch wenn die Maßnahmen nur befristet eingesetzt werden. Diesen Eingriff gilt es ob seiner Verhältnismäßigkeit abzuwägen gegen die Gefahr einer großen Anzahl von Todesfällen, die aus Gründen medizinischer Kapazitätsengpässe bei einer massiven Verbreitung des COVID-19 entstehen könnten. Nun wird der Tod freilich ob seiner Unwiderruflichkeit im Allgemeinen als schwerwiegender eingestuft als der Wegfall der Existenzgrundlage, wenn eine Grundsicherung durch den Staat ohnehin gewährleistet ist. Die Abwägung ist dennoch heikel, weil zu bedenken ist, dass der durch „Abdrehen“ der Wirtschaft entstehende und entstandene Schäden ohne Gegenmaßnahmen für einen nicht geringen Teil der Erwerbstätigen real und groß sein kann, wohingegen die verhinderten Todesfälle nicht mit Sicherheit messbar sind.
Damit wir eine solche Diskussion nicht führen zu müssen, hat sich unser Nationalrat entschieden, jenen Erwerbstätigen – Menschen wie Kapitalgesellschaften – finanziell zusätzlich unter die Arme zu greifen, die durch die Maßnahmen einen Schaden erleiden. Was der Staat derzeit tut, ist, dass er die von den Maßnahmen betroffenen Betriebe durch Zuschüsse, spezielle Zuwendungen, Kredit- und Haftungsübernahmen und Steuerstundungen unterstützt.
REWI: Auf der Homepage des BMF ist von einem 38-Milliarden-Hilfspaket die Rede. Was bedeutet das?
Tina Ehrke-Rabel: Wenn auf der Homepage des BMF von einem Hilfspaket in Höhe von 38 Milliarden Euro die Rede ist, was etwas weniger als die Hälfte der Steuereinnahmen aus dem Vorjahr ausmacht, dann bedeutet das nicht unbedingt, dass auch 38 Milliarden Euro dauerhaft aus dem Staatsbudget in die wirtschaftliche Abfederung der COVID-19-Maßnahmen fließen. Streng genommen werden nicht, zumindest soweit derzeit zu sehen ist – nachdem dem BMF weite Spielräume eingeräumt wurden, ist die derzeitige ausgabenseitige Situation des Bundes nicht umfassend transparent –, 38 Milliarden an Hilfen ausbezahlt, sondern ein Teil der 38 Milliarden besteht in Hilfen, ein Teil in der Übernahme von Garantien für Kredite und ein Teil in Zahlungserleichterungen. Wenn also der österreichische Vizekanzler in einem Interview gegenüber der Zeit vom 2. April 2020 betont: „Jeder Schaden wird vom Staat gedeckt“, dann stimmt diese Aussage so leider nicht. Dennoch bringt dieses Hilfspaket jedenfalls eine beachtliche Unterstützung für die Unternehmen. Gerade das Kurzarbeitsgesetz trägt hoffentlich dazu bei, die Zahl der Arbeitslosen nicht explodieren zu lassen. Dass sie dennoch gestiegen ist, konnte und kann nicht verhindert werden. Und ob nach dem Lockdown nicht vielerorts Restrukturierungen stattfinden werden, die zu einer Reduktion der Arbeitsplätze im Verhältnis zu Zeiten vor der Einstellung des österreichischen Wirtschaftsbetriebes geführt haben, bleibt abzuwarten.
REWI: Was werden die Konsequenzen sein? Wird es Steuererhöhungen geben?
Tina Ehrke-Rabel: Es ist sehr wahrscheinlich, dass jeder einzelne Unternehmer und auch die Arbeitnehmer durch die Maßnahmen einen Schaden erleiden werden, der durch den Staat nicht vollständig abgedeckt wird. Und in dem Ausmaß, in dem er abgedeckt wird, wird er jedenfalls ein Loch in den Staatshaushalt reißen. Hinzu kommt, dass die Einnahmenprognosen, auf deren Basis das Budget für 2020 erstellt wurde, in der Realität nicht zu erreichen sein werden. Es ist nämlich selbst dann nicht davon auszugehen, dass nach dem schrittweisen „Hochfahren“ der Wirtschaft der zur Sperrstunde vereitelte Konsum nachgeholt wird. Neben konjunkturpolitischen Maßnahmen, die den Konsum ankurbeln sollen, müssen wir vor allem damit rechnen, dass wir alle in den künftigen Jahren die Folgen des Lockdowns zu tragen haben. Wenn also der Vizekanzler zur „gerechten“ Krisenfinanzierung eine Erbschafts- und Schenkungssteuer fordert oder die Steuerwissenschafter Gabriel Zucman und Reuven Avi-Yonah eine Solidarabgabe der Profiteure aus der Krise, dann indiziert das nur, dass zusätzliche Steuereinnahmen nötig sein werden, um die Ausgaben in der Krise wieder abzudecken. So gesehen sind die finanziellen Unterstützungen, die jetzt geleistet werden, ohnehin nur Vorfinanzierungen, die letztendlich wieder von der Allgemeinheit zu tragen sind.
Wir werden also nach der Krise, sofern man von einem „nach der Krise“ und nicht nur einem Abflachen der Krise sprechen wird können, große steuerpolitische Fragen zu beantworten haben, mit denen wir uns eigentlich davor schon beschäftigt haben, sie aber politisch nicht ernsthaft verfolgt haben.
REWI: An welche Fragen denken sie?
Tina Ehrke-Rabel: Dass Werner Kogler die Erbschafts- und Schenkungssteuer wieder ins Gespräch bringt, ist nicht überraschend. Wir beobachten seit vielen Jahren ein starkes Auseinanderdriften in den Vermögensverhältnissen. Es gibt einige wenige, die sehr reich sind und sehr viele, deren Vermögen und Einkommen sehr gering ist. Dass das so ist, liegt unter anderem auch an unseren Steuersystemen, die den Faktor Arbeit im Verhältnis zum Kapital überproportional besteuern. Dies wird schon lange von nicht wenigen Wissenschaftern als ungerecht empfunden. Interessanterweise war die Diskussion um Erbschafts- oder Schenkungssteuern oder auch Vermögenssteuern in Kombination mit einer Reduktion der Steuern auf den Faktor Arbeit aber insgesamt auch in breiten Teilen der Bevölkerung unpopulär. Verhaltensökonomische Studien haben bewiesen, dass auch derjenige, der rational betrachtet mangels relevanter Erbschaft oder Schenkung nie eine Erbschafts- oder Schenkungssteuer zahlen wird, gegen eine solche ist, weil er die Chance auf eine zufällige Erbschaft oder einen Lotteriegewinn nicht ausschließt. Auch die Besteuerung der Internetgiganten, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Profiteure der Krise sind, war schon vor der Krise ein Thema. Dass sie nun nach Meinung Einzelner (erst recht) höher besteuert werden sollen, kommt nicht überraschend. Aus österreichischer Sicht sind die derzeit gemachten Vorschläge aber in mehrfacher Hinsicht heikel und damit kann sich das Finanzrecht beschäftigen.
Eines steht aber fest: Wenn der Staatshaushalt angeschlagen ist und zusätzliche Steuerquellen erschlossen werden müssen, dann kann über unpopuläre Maßnahmen nachgedacht werden, weil es plötzlich die Notwendigkeit dafür durch die Krise augenfälliger geworden ist.
Was die Erbschafts- und Schenkungssteuer anbelangt, wäre ich aber sehr vorsichtig, in ihr das probate Mittel zu sehen, die Budgetlöcher wieder zu stopfen. Eine breit angelegte Erbschafts- und Schenkungssteuer, die tatsächlich ein nennenswertes Abgabenaufkommen generieren würde, halte ich ohne gleichzeitige Herabsetzung der Steuern auf den Faktor Arbeit für problematisch. Soll sie nur die sogenannten „Superreichen“ treffen, kann sie zwar einen Effekt in der Wahrnehmung von Gerechtigkeit erzielen, aber kein Steueraufkommen erzeugen, das Budgetlöcher zu stopfen geeignet ist. Dazu gibt es Studien in den USA und in Deutschland.
REWI: Das Institut für Finanzrecht forscht im Profilbildenden Bereich „Smart Regulation“. Haben Ihre Forschungen aus diesem Bereich auch eine Bedeutung in der Beurteilung der von Ihnen geschilderten Maßnahmen?
Tina Ehrke-Rabel: Ja, und wie. Soweit sich das Finanzrecht mit dem Steuerrecht beschäftigt, ist das Steuerrecht Eingriffsverwaltung par excellence. Steuern zwingen den Einzelnen zu einem finanziellen Beitrag zum Staatshaushalt. Ihnen kann sich niemand entziehen und sie treffen jeden. Sie stellen, in unserem liberalen Staatsverständnis (Anmerkung: man könnte das auch anders sehen), einen Eingriff in die individuelle Freiheit dar, bedürfen daher einer konkreten gesetzlichen Grundlage, müssen sich stets am Gleichheitssatz messen lassen und als Eingriffe in diverse Grundrechte verhältnismäßig und zieladäquat sein. Ähnlich ist es mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung von COVID-19: Sie beschränken die individuelle Freiheit jedes Einzelnen. Ihre Befolgung kann durch Zwang durchgesetzt werden. Was also für zulässige Eingriffe durch Steuern gilt, gilt auch für die COVID-19-Maßnahmen.
Was daher im Finanzrecht zur rechtsstaatlich unbedenklichen Rechtserzeugung geforscht wurde, kann hier und jetzt fruchtbar gemacht werden. So können auch wir einen Beitrag dazu leisten und Beispiele aus dem Finanzrecht bringen, wenn hinterfragt wird, ob die weiten Verordnungsermächtigungen, die in den COVID-19-Maßnahmengesetzen zu finden sind, dem gesetzlichen Determinierungsgebot tatsächlich gerecht werden. Der finanzrechtlich Geschulte wird sich auch wundern, dass öffentlich von einer strafbewehrten Maskenpflicht die Rede ist, obwohl es dafür keine Rechtsgrundlage gibt, denn ein Erlass, von dem ebenfalls in den Medien die Rede ist, stellt eben keine verbindliche Rechtsgrundlage dar. Das kennen wir aus dem Steuerrecht zur Genüge. Ebenso wundert sich der finanzrechtlich Geschulte, dass die näheren Modalitäten der Auszahlung aus dem Härtefonds einer „Richtlinie“ durch den Bundesminister für Finanzen vorbehalten sind. Eine Richtlinie ist eben keine Verordnung, zumindest keine formell richtige, und daher nicht rechtlich verbindlich.
REWI: Ihre Forschung hat damit für viele Bereiche eine wesentliche Bedeutung.
Tina Ehrke-Rabel: Diese beiden Beispiele zeigen eines, womit sich einzelne Forscherinnen und Forscher des Instituts seit vielen Jahren beschäftigen: Regulierung ist heute nicht mehr nur auf die Setzung von Normen beschränkt, die verbindlichen Befehl und Zwang ausüben, sondern sie ist inzwischen bewusst „smarter“ geworden. Die politischen Akteure setzen auf sog. „soft law“, um das Verhalten der Menschen zu steuern. Gemacht wurde das schon immer, aber in den vergangenen Jahren wurde diese Form der soften Verhaltenssteuerung wissenschaftlich von Verhaltensökonomen und Psychologen aufgearbeitet und so bewusst gemacht. Das Krisenmanagement der österreichischen Bundesregierung ist ein Schulbeispiel für „Smart Regulation“ in der Form, wie wir es in den letzten Jahren für den sich massiv veränderten Steuervollzug erforscht haben. Und das Spannende ist, wir sehen hier unmittelbar, dass es funktioniert. Was wir leider auch sehen, ist, dass die Mechanismen der Rechtserzeugung, die gewährleisten, dass der liberale Rechtsstaat gewahrt und kontrollierbar bleibt, nicht mehr völlig ernst genommen werden. Dieses Verschwimmen zwischen „soften“ und „harten“ Tools der Verhaltenslenkung macht mir Sorgen. Das hat mir schon im Bereich der Steuern Sorgen gemacht. Wenn sich nun aber zeigt, dass es über die Steuern hinaus in noch unmittelbarer freiheitsbeschränkenden Situationen Schule macht, macht mich das umso mehr besorgt.
REWI: Aber hat nicht Smart Regulation etwas mit Technologierecht zu tun?
Tina Ehrke-Rabel: Auch, aber nicht nur. Aber auch zu diesem technologierechtlichen Aspekt der Smart Regulation können wir im Finanzrecht tätige Wissenschafter einen wesentlichen Beitrag leisten: Letzte Woche war die Stopp-Corona-App des Roten Kreuzes in allen Medien. In der internationalen Presse wird das Tracking der Bevölkerung zum Rückkehr in die Normalität ebenfalls breit diskutiert. Selbst wenn die verpflichtende Verwendung der App in Österreich derzeit ausgeschlossen zu sein scheint, ist sie meiner Meinung nach noch nicht vom Tisch.
Wir beobachten im Bereich des Abgabenverfahrensrechts national und vor allem international und auch auf Ebene der internationalen und supranationalen Organisationen den Trend zur Nutzung des Internet of Things, des Smartphones und anderer digitaler Anwendungen, um den Steuerbetrug zu bekämpfen. Um den Betrüger innerhalb einer Gruppe von Steuerpflichtigen zu identifizieren, muss man ihn mit den anderen Steuerpflichtigen vergleichen können, d.h. gewisse Formen des Tracking aller Steuerpflichtigen sind in manchen Staaten dieser Welt (auch Mitgliedstaaten der EU) bereits in Verwendung. An deren weiterer Verwendung wird auf inter- und supranationaler Ebene bereits gearbeitet. Auch im Abgabenverfahrensrecht gelten die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention, des Staatsgrundgesetzes und der Europäischen Grundrechtecharta.
Die Überlegungen, die wir aus finanzrechtlicher Sicht zur Verwendung derartiger digitaler Tools gemacht haben, lassen sich daher ohne weiteres für die rechtliche Bewertung einer Stopp-Corona-App fruchtbar machen. Aus meiner Beobachtung sind wir jetzt gefordert, mit Besonnenheit zu handeln und auch in der Krise den Rechtsstaat zu wahren. Digitale Applikationen, die umfassend Daten sammeln, ermöglichen umfassende Datenauswertungen und die Ableitung von umfassenden personenbezogenen Informationen, die, so sie rechtlich nicht bereits am Anfang sorgfältig eingehegt werden, Missbrauch Tür und Tor öffnen. Darauf aufmerksam zu machen und das letztendlich zu verhindern, ist meines Erachtens Aufgabe der Rechtswissenschaften jetzt und heute.